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Für mehr Sicherheit in den winterlichen Bergen

Am 18. November 2023 fand in Graz das fünfte von den Naturfreunden Österreich und der GeoSphere Austria veranstaltete internationale Lawinensymposium statt - mit zahlreichen renommierten Fachleuten, welche die Gäste auf den neuesten Stand der Lawinen- und Risikoforschung brachten.

Text: Christine Moser, freie Journalistin, Fotos: Martin und Ulf Edlinger, Naturfreunde Österreich

 

Seit 2015 hat sich das Internationale Lawinensymposium der Naturfreunde Österreich und der Bundesanstalt GeoSphere Austria, das alle zwei Jahre abgehalten wird, zu einem Fixpunkt für Bergsportler*innen und Bergprofis sowie für die Fachwelt der Bereiche Lawinenkunde und Lawinenwarnung entwickelt. Den hervorragenden Ruf, den die Veranstaltung genießt, bestätigte am 18. November 2023, als in den Räumen der Grazer Arbeiterkammer das fünfte Lawinensymposium stattfand, auch der Vortragende mit der weitesten Anreise: Mark Diggins aus Schottland. In kurzweiligen rund 30 Minuten gab der Leiter des schottischen Lawinenwarndienstes SAIS nicht nur einen Einblick in die Topographie, die Wetterlagen und die daraus resultierenden besonderen Lawinenproblematiken der Bergwelt seiner Heimat. Der Experte lieferte auch einen Ausblick auf die Zukunft in den Alpen: Die hoch dynamischen Wetter- und Lawinensituationen, die für Schottlands Berge typisch sind, dürften bei fortschreitender Klimaerwärmung auch im Alpenraum viel häufiger werden. Diggins’ Vortrag war jedoch nicht das einzige Highlight des Tages.

 

Den beiden Initiatoren des Lawinensymposiums Martin Edlinger, Leiter der Abteilung Bergsport & Schitouren der Naturfreunde Österreich, und Arno Studeregger, Lawinenexperte der GeoSphere Austria und Schitourenreferent der Naturfreunde Österreich, ist es wieder gelungen, jede Menge wissenswerter Inhalte zu bieten, die sowohl für das Fachpublikum als auch für ganz gewöhnliche Sportler*innen interessant und hilfreich waren. Nicht weniger als 45 Vorträge in zwei Sälen sowie zwei große Workshops standen diesmal auf dem Programm. Die 600 Besucher*innen hatten somit die „Qual der Wahl“, weil etliche Programmpunkte zeitgleich stattfanden.

 

Ein Wettlauf gegen die Zeit

„Ein Lawinenunfall ist ein Wettlauf gegen die Zeit“, betonten Martin Edlinger, Bergführer und Bergretter, und der Bergrettungsarzt Alexander Kainersdorfer in ihrem Eröffnungsvortrag, der sich dem Thema Kameradenrettung nach einem Lawinenabgang mit dem Fokus auf den zeitlichen Aspekt widmete. 15 Minuten ist bekanntlich der Zeitraum, in dem 80 bis 90 Prozent der Ganzverschütteten gute Überlebenschancen haben; danach fällt die statistische Überlebenskurve steil ab. Es geht daher auch darum, zeitliche Abläufe zu optimieren – und dafür gaben Edlinger und Kainersdorfer wichtige Hinweise. Etwa, sich die Punkte zu merken, wo die/der Verunfallte von der Lawine erfasst wurde und wo sie/er in den Schneemassen verschwunden ist. Weiters sei es wichtig, dass die Helfer*innen während der Verschüttetensuche eine klare Kommunikationsstruktur einhalten. Das Üben von Notfallszenarien und LVS-Suche sollte intensiv und so oft wie möglich erfolgen - vor allem auch unter dem Gesichtspunkt „Zeitgewinn“.

 

Um Zeitgewinn ging es auch im Vortrag des Bergretters Stefan Schröck und von Christian Patschok von der Landeswarnzentrale Steiermark, wo die über den Alpinnotruf 140 abgesetzten Notrufe eingehen. Beide Experten hielten fest, dass in Bergnot geratene Personen oft ihren Standort nicht kennen. Schröck und Patschok wiesen darauf hin, dass es heute etliche Möglichkeiten einer digitalen Standortbestimmung mittels Handy gibt. Bergsportler*innen müssten sich jedoch damit im Vorfeld aktiv auseinandersetzen, und nicht erst dann, wenn ein Notfall eingetreten ist.

 

 

Winterwetter und Klimaerwärmung

Welche Zutaten es für große Schneemengen nördlich und südlich der Alpen braucht, zeigte Gerhard Hohenwarter von der GeoSphere Klagenfurt in seinem Vortrag „Winterwetter“. Auch von ihm gab es für alle Bergsportler*innen gute und vor allem einfach anwendbare Tipps: Etwa, dass bei diffuser Sicht die horizontale Weitsicht zwar 40 bis 50 Kilometer betragen, aber die Bodensicht dennoch gefährlich schlecht sein könne. Auch darauf sei zu achten, empfahl Hohenwarter.

 

Wetter ist nicht Klima – dies wurde im Referat von Gudrun Mühlbacher vom Deutschen Wetterdienst einmal mehr deutlich. Anhand einer 135-jährigen vollständigen Messreihe von Schneehöhen und Schneedeckentagen von Oberstdorf zeigte die Expertin, dass es zu jeder Zeit schneereichere und schneeärmere Winter gab; in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren gehörten jedoch viele Winter zu den schneeärmsten der Aufzeichnungsgeschichte. Die Auswirkungen der zunehmenden Klimaerwärmung wurden durch Mühlbachers Vortrag auch für Laien klar ersichtlich.

 

 

Schneebrettlawine, Schneedeckenstabilität

Die Schneebrettlawine als die gefährlichste Lawine für Schifahrer*innen: Damit beschäftigten sich der Blogger und Beobachter des Lawinenwarndienstes Tirol Lukas Ruetz sowie Christoph Hummel vom Lawinenwarndienst Bayern: „Mit einem Blick in die Schneedecke kann ich einen Einzelhang zwar nicht beurteilen, aber ich kann mich sehr wohl nähern“, meinte Hummel und plädierte dafür, gängige Schneedecken-Stabilitätstests wie den „Kleinen Blocktest“ oder den „Extended Column Test“ (ECT) zu erlernen und auf Schitouren so oft wie möglich durchzuführen. Rund um diese Tests haben die Bayerischen Lawinenwarner eine sogenannte „Daumenmethode“ zur Beurteilung der Schneedeckenstabilität entwickelt.

 

Faktor Mensch im Fokus

Gerhard Mössmer und Reinhold Pfingstner wiesen in ihrem Vortrag über die „Integrative Lawinenkunde“ – eine solche wird seit 2018 von einer Arbeitsgruppe in Österreich mit dem Ziel entwickelt, unterschiedliche Ansätze zu einer einheitlichen Lehrmeinung zusammenzuführen – einmal mehr auf den wichtigen Faktor „Mensch“ in der Tourenplanung und während einer Schitour hin: Bis vor Kurzem habe man den menschlichen Faktor gleichrangig mit den objektiven Faktoren „Verhältnisse“ und „Gelände“ angesehen. Doch mittlerweile werde der Faktor Mensch „prominent in die erste Reihe gestellt“. Auch Florian Hellberg vom Verein der Deutschen Berg- und Schiführer ging in seinem Referat darauf ein. Ingrid Reiweger von der Universität für Bodenkultur Wien, die jüngste Forschungsfortschritte in der Schnee- und Lawinenkunde thematisierte, bestätigte ebenfalls, dass die neueste Forschung sich bei den drei Hauptfaktoren „Schneedecke“, „Gelände“ und „Mensch“ auf den letztgenannten konzentriert.

 

 

Kein Hinweis auf Leichtsinn

Sind Schitourengeher*innen und Freerider*innen leichtsinnig und oft planlos? Leben sie nach dem Motto „No risk, no fun“? Lukas Fritz, Martin Schwiersch und Bernhard Streicher konnten dafür in ihrer groß angelegten „Schitourenstudie“ nur wenige Anhaltspunkte finden. In den Wintern 2019/20 sowie 2021/22 befragten die beiden Schi- und Bergführer Fritz und Schwiersch sowie der Risikoforscher Streicher Sportler*innen direkt vor einer Tour am Parkplatz. 95 Prozent hatten eine komplette Notfallausrüstung mit; fast alle hatten ein klares Tourenziel, kannten den aktuellen Lawinenlagebericht und ließen sich davon leiten. Vielfach fehlte jedoch eine klare Systematik in puncto Vorgehensweise – sowohl bei der Tourenplanung als auch im Umgang mit Gefahrenstellen im Gelände. Zwei Ansatzpunkte, die auch in die Ausbildung verstärkt einfließen sollten, empfahlen die Studienautoren.

 

Dass man im winterlichen Gebirge auch bei besten Bedingungen immer wachsam sein muss, zeigte Arno Studeregger in seinem Vortrag „Geringe Lawinengefahr bedeutet NICHT keine Gefahr“, in dem er zwei tatsächlich passierte Unfälle analysierte.

 

Zahlreiche weitere Vorträge sowie die beiden Workshops „Interpretation des Lawinenlageberichts“ von Marcellus Schreilechner, Berg- und Schiführer und ehemaliger Bundesbergsportreferent der Naturfreunde Österreich, und „Digitale Tourenplanung WS“ von Matthias Pilz von den Naturfreunden Österreich, gaben den Teilnehmenden wertvolles Wissen und Impulse dafür, wie man im winterlichen Gebirge risikobewusst und sicher unterwegs sein kann.

 

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